Wie ich Teamwerte ermittle und wozu sie dienen können
Heutzutage ist viel von “Werten” die Rede. Unternehmen sollen an einem Purpose ausgerichtet sein, Teams sollen werteorientiert handeln und Firmen kommunizieren ihre Werte, auch um für neue Mitarbeiter (heute: “Talente”) attraktiv zu sein.
Ich halte all das für wichtig und richtig. Das, was ich da lese oder höre, wirkt auf mich jedoch häufig künstlich oder zumindest theoretisch. Um ein anderes beliebtes Wort zu verwenden: Es klingt nicht authentisch. Das liegt vor allem daran, dass das Gesagte und das Handeln der Unternehmen nicht zusammenpassen.
Aus diesen Gründen habe ich mich schon vor langer Zeit gefragt, wie ich das Thema behandele. Hier beschreibe ich ein paar Erfahrungen aus meiner Arbeit mit Teams verschiedener Unternehmen, die alle eins gemeinsam haben: sie arbeiten agil.
Die richtigen Werte vorgeben
Viele “meiner” Teams der vergangenen Jahre arbeiten mit Scrum. Der Scrum Guide gibt fünf Werte vor, die die Menschen hinter Scrum für wichtig erachten: Commitment, Focus, Openness, Respect und Courage (Selbstverpflichtung, Fokus, Offenheit, Respekt und Mut).
Ich halte das alles für wichtig. Doch eins irritiert mich: Diese fünf Werte sollen für alle Teams, in allen Unternehmen, in allen Ländern, in allen Kulturen und zu jeder Zeit die Leitlinie sein? Das ist ein sehr hoher Anspruch, den ich nicht teile. Hinzu kommt, dass ich mehr als einmal beobachtet habe, dass diese Begriffe eher missbräuchlich verwendet werden. Etwa so:
Die Geschäftsleitung eines Unternehmens beschließt die Entwicklung eines neuen Produkts und erteilt einen entsprechenden Auftrag an die interne Entwicklungsabteilung. Dazu gibt es gleich einen Termin: In drei Jahren soll das neue Produkt fertig sein. So einfach ist das. Oder? Natürlich ist nicht ganz klar, was das Produkt genau können soll, wie es genau funktionieren soll, wie es genau bedient werden soll usw. Es handelt sich eher um eine unscharfe Vorstellung, wohin die Reise gehen soll. Aber der Termin steht im Raum.
Wenn es dann im Laufe der Zeit offensichtlich wird, dass der Termin nicht zu halten ist, habe ich schon erlebt, dass die Geschäftsleitung die Entwickler auf ihr Commitment angesprochen hat. “Ich brauch Euer Commitment.” oder “Ich habt Euch doch committet.” Sehr beliebt ist auch “WIR haben uns doch committet.” Tatsächlich haben wir nichts dergleichen getan. Wir wurden nämlich gar nicht gefragt, ob der Termin vernünftig ist.
In seinem berühmten Buch “5 Dysfunctions of a Team” legt Patrick Lencioni dar, welche zugrundeliegenden Defizite zu einem lack of commitment (Fehlende Selbstverpflichtung oder Mangel an Selbstverpflichtung) führen können: Angst vor Konflikten und fehlendes Vertrauen. Wenn eines dieser Defizite vorliegt, kann sich der Scrum Guide auf den Kopf stellen: Commitment ist dann nicht zu erwarten.
Kurz gesagt: Ich halte nichts davon, Werte vorzugeben.
Werte sind schon da
Und überhaupt: Ich glaube, dass jedes Team sowieso seine eigenen Werte schon besitzt, ob man will oder nicht. Sie bestimmen einen Teil des Handelns. Sie sind in der Kommunikation erkennbar. Sie sind Teil der Leitlinien, die das Team in komplexen Situationen für die Navigation verwendet. Also stellt sich die Frage: Wie kann ich die Werte sichtbar machen?
Mein Ansatz ist ganz einfach: In meiner Arbeit mit agilen Teams, die regelmäßig Retrospektiven durchführen, achte ich auf Geschichten, die Werte vermitteln. Wenn etwas besonders gut funktioniert hat, wenn das Team schwierige Aufgaben gelöst hat, wenn das Team herausragende Erfolge errungen hat, frage ich nach. Manchmal bohre ich nach, lasse nicht locker.
Warum hat das so gut funktioniert? Was war hier die Schwierigkeit und wie seid Ihr ihr begegnet? Welche Eigenschaft des Teams war für den Durchbruch entscheidend? Mit welcher Haltung seid Ihr das Thema angegangen?
Ich sammle die Antworten über einen längeren Zeitraum und verdichte sie. Ich nehme sie auf ein Flipchart, das im Teamraum aushängt (oder ein Online-Whiteboard bei verteilten Teams). Wenn eine Antwort immer wieder genannt wird, weise ich darauf hin und hinterfrage, ob es im Kern die gleiche Aussage steckt. Nach und nach, über Wochen oder Monate entsteht ein gemeinsames Bild, das zum Beispiel so aussieht:
Der wichtigste Punkt ist dabei: Zu jedem Wert und seiner Darstellung kann jeder im Team eine Geschichte erzählen. Die Geschichten sind wichtig, die Werte nur eine Erinnerung an die Geschichte. Ohne die Geschichte sind die Darstellungen genauso theoretisch, wie eingangs erwähnt.
Wie können solche Geschichten aussehen? Zwei Beispiele für den Wert “Mut zur Angreifbarkeit”:
In einem Fall hat ein Teammitglied eine Arbeit erledigt, für die ihm die Fertigkeiten fehlten. Er hatte schlicht keine Erfahrung, musste sich einarbeiten und hat riskiert, dass das Ergebnis minderwertig ausfällt und er kritisiert wird. Weshalb hat er das getan? Einfach, weil niemand im Team die Skills besaß und die Arbeit erledigt werden musste. Wieso konnte er das Risiko eingehen? Weil das Team kein Defizit im Vertrauen (siehe oben) hatte. Ihm war klar, dass schlimmstenfalls das Ergebnis seiner Arbeit kritisiert wird, jedoch nicht er selbst. Er hat übrigens nicht nur Mut zur Angreifbarkeit bewiesen, sonder sich auch initiativ verhalten; ein zweiter Wert dieses Teams.
In einem anderen Fall hat das gesamte Team Mut zur Angreifbarkeit bewiesen. Das Team hat eine weitreichende Entscheidung ohne Rücksprache mit dem Product Owner oder dem Vorgesetzten getroffen. Es ging um viel Geld und um große Auswirkungen. Die Absicht war, Schaden vom Unternehmen abzuwenden. Das Ergebnis dieser Entscheidung war herausragend. Insofern stellte sich später nicht die Frage, ob das Team für ihr nicht autorisiertes Handeln sanktioniert werden würde. Doch was wäre geschehen, wenn das Ergebnis anders ausgefallen wäre?
Geschichten dieser Art verwende ich bei der Arbeit mit Teams immer wieder, um Entscheidungen herbeizuführen. Wenn ein Team in der Klemme steckt und nicht weiter weiß, stelle ich zum Beispiel die Frage, ob einer der Teamwerte bei der Entscheidungsfindung helfen kann? Dabei ist es weniger der Wert, als viel mehr die Geschichte, die die Blockade löst. Wenn das Team eine Entscheidung scheut, wenn es Angst hat und sich dann die Geschichte erzählen kann, wie es früher bereits einmal einem der Werte gefolgt ist und ein herausragendes Ergebnis erzielt hat, dann wird die anstehende Entscheidung auf einmal ganz leicht.